Rolf Langebartels
Tischkonzert mit PC
2002
     

Beschreibung des Tischkonzerts

    'Und was ist ein Proporz-Wettlauf?' fragte Alice. 'Man kann es am besten erklären', sagte der Brachvogel, 'indem man es macht.'

    Er legte zuerst die Rennbahn fest, eine Art Kreis ('auf die genaue Form kommt es nicht an', sagte er), und die Mitspieler mußten sich irgendwo auf der Bahn aufstellen, wie es sich gerade traf. Es gab kein 'Eins, zwei, drei, los!', sondern jeder begann zu laufen, wann er wollte, und hörte auf, wie es ihm gefiel, so daß gar nicht so leicht zu entscheiden war, wann der Wettlauf eigentlich zu Ende war.

    Nachdem sie indessen ungefähr eine halbe Stunde lang gelaufen waren, rief der Brachvogel plötzlich: 'Ende des Wettlaufs!', und alle drängten sich, noch ganz außer Atem, um ihn und fragten: 'Aber wer ist der Sieger?' Dies konnte der Brachvogel nicht ohne tieferes Nachdenken beantworten, während ringsum alles schwieg und wartete. Endlich sagte der Brachvogel: 'Alle sind Sieger, und jeder muß einen Preis bekommen.'

    Lewis Carroll, Alice im Wunderland, zuerst publiziert 1865

Das Tischkonzert ist ein Spiel für mehrere Personen, vielleicht so etwas wie 'Mensch ärgere Dich nicht'. Es gibt Regeln, die die Spieler akzeptieren müssen, wenn sie mitspielen wollen. Wenn sie die Spielregeln nicht beachten wollen, sollten sie nicht mitspielen.

Das gesamte Konzert baut sich als Abfolge von Ereignissen unterschiedlicher Dauer auf. An manchen Ereignissen können die Spieler teilnehmen, an manchen Ereignissen dürfen sie nicht teilnehmen. Darüber entscheidet das Programm des Personal Computers. Da dem Programm die Namen der Spieler nicht bekannt sind, benutzt es die Nummern der Plätze am Tisch, um ihnen mitzuteilen, wann sie spielen können. Die Stühle, die am Tisch stehen, tragen aus diesem Grunde Nummern. Wann ein Spieler an der Reihe ist zu spielen, zeigt ihm das Bild auf dem Computerbildschirm. Wenn er dort die Nummer seines Platzes sieht - angezeigt in großen Ziffern - kann er spielen und solange, wie seine Nummer dort zu sehen ist. Die Nummern bleiben während der Dauer eines Ereignisses auf dem Bildschirm stehen. Nur beim Wechsel zum nächsten Ereignis können sich auch die angezeigten Platznummern verändern. Wenn der Spieler seine Nummer beim Beginn des nächsten Ereignisses weiterhin auf dem Bildschirm sieht, spielt er einfach weiter. Wenn seine Nummer nicht mehr angezeigt wird, hat er jetzt Pause, bis seine Platznummer wieder bei Beginn eines der folgenden Ereignisse des Konzerts auf dem Bildschirm erscheint.

Bei den meisten Ereignissen des Konzerts, an denen ein Spieler teilnimmt, spielt er zusammen mit anderen Spielern. Es kann jedoch auch vorkommen, daß er ein Ereignis allein spielt, also ein Solo spielt. Bei manchen Ereignissen kann auch das Wort 'Stille' an Stelle der Platznummern auf dem Bildschirm angezeigt sein, dann dürfen alle Spieler nicht spielen. Das bedeutet tacet, Schweigen. Die Stille habe ich in meinem Tischkonzert als weiteren Mitspieler aufgefaßt, vielleicht als den Antipoden der Spieler.

Dies sind die einzigen Spielregeln. Was die Spieler während der Ereignisse des Konzerts, an denen sie teilnehmen, tun wollen, ist ihnen allein selbst überlassen. Es gibt keine Vorschriften und auch keine Anweisungen dafür. Ihre Aktivitäten können musikalischer, darstellerischer, bildender, sprachlicher oder anderer Art sein. Alles ist möglich. Alltägliches und Sonntägliches, Ernstes und Heiteres, Professionelles und Dilettantisches, Lautes und Leises, Konventionelles und Unkonventionelles ... Die Spieler sollten sich jedoch überlegen, welche ihrer Tätigkeiten ihnen soviel bedeuten, daß sie dies in der Öffentlichkeit tun möchten im Kreise von mehreren Mitspielern. Sie müssen ihren eigenen Weg finden.

Der allgemeine zeitliche Verlauf des Konzerts, also die Abfolge der Ereignisse, die Einsätze der Spieler und auch die Dauern der einzelnen Ereignisse, all dies ist vom Zufall bestimmt, den ich im Programm des Personal Computers programmiert habe. Dessen Ergebnisse sind im Einzelnen nicht vorhersehbar und auch nicht reproduzierbar. Jede Aufführung des Tischkonzerts ist in diesem Sinne einmalig. Immer zu Beginn eines Ereignisses des Konzerts, also in Realzeit, legt das Computerprogramm durch Zufallsfunktionen die Dauer des gerade aktuellen Ereignisses fest, bestimmt dann die Anzahl der Mitspieler an diesem Ereignis und wählt anschließend für dieses Ereignis auch genau soviel Mitspieler aus der Gesamtheit der anwesenden Spieler aus. Die Resultate sind dann sofort auf dem Bildschirm zu sehen; und das neue Ereignis beginnt. Der Zeitpunkt des Wechsels von einem Ereignis zum nächsten ist deshalb oft ganz überraschend und spannend.

Ich verstehe mein Tischkonzert als Versuch einer sozialen Wärmeplastik. Wir haben sooft erfahren, daß wir mit verschiedenen Personen am Tisch sitzen und alles so beliebig ist, ohne Verantwortung und Energie, eine kalte Situation. Das Tischkonzert gibt den Spielern die Gelegenheit, sich selbst und auch ihre Mitspieler für dessen Dauer ernst zu nehmen. Ich habe nicht festgelegt, wie sie spielen sollen. Sie können auf ihre Mitspieler eingehen und mit diesen zusammen zu spielen versuchen, oder aber auch gegen sie spielen. Sie können aber auch ganz unabhängig von ihren Mitspielern so spielen, wie sie es sich vorher überlegt haben.

Sicher gibt es zwischen diesen beiden Spielstrategien allerlei Mischformen unterschiedlicher Art und auch gänzlich andere Vorgehensweisen. Ich bin bei jedem Tischkonzert immer wieder überrascht über neue Wege, die die Spieler finden und gehen. Mich fasziniert der Reichtum von Erfindungen, die die Spieler machen und an deren Existenz ich ursprünglich, als ich das Tischkonzert geschrieben habe, nie gedacht habe. Vielleicht fassen die Spieler ihr Mitspielen als ein kleines Abenteuer auf, in das sie sich für die Dauer des Konzerts stürzen wollen.

    So erschien es mir denn richtiger, erst einmal die Grenze zu überschreiten, um damit den ersten Schritt aus der Ordnung in das Ungeordnete zu tun. Ich hatte die Vorstellung, daß das Wunderbare, das Reich der sagenhaften Zufälle und Verwicklungen sich mit jedem Schritt deutlicher offenbaren würde, wenn man den Mut hatte, sich aus dem Gewöhnlichen zu entfernen - man mußte seine Anziehung um so stärker erfahren, je mehr man ihm entgegenging. Es blieb mir aber nicht verborgen, daß jedem Zustand eine große Schwerkraft innewohnt, aus der sich heraus zuspielen der bloße Gedanke nicht genügt.

    Ernst Jünger, Afrikanische Spiele, zuerst publiziert 1936

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